Lesepredigt vom 1. Januar 2021

von Prädikant Heinz Frankenberger

 

 

Liebe Leserin, lieber Leser!

Als dieser Satz: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!“ vor drei Jahren zur Jahreslosung für 2021 bestimmt wurde, ahnte niemand, wie wichtig und wie notwendig das Wort „erbarmen“ werden könnte für diese neue Jahr. Im Lukas-Evangelium ist er Teil der „Feldrede“, einer Sammlung von Kernsätzen Jesu. Jesus redet vorher über die Feindesliebe: „Liebt eure Feinde, tut wohl denen. die euch hassen ….“ (Lukas 6, 27), Nach dieser Losung folgt der Satz: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet.“ (Lukas 6, 37) Dadurch wird das „Seid barmherzig…!“ zu einer ganz zentralen Aufforderung in der Botschaft Jesu.

Wenn man Worte bewusst benutzt, auch bei einer Übersetzung, dann ist die Wahl der Worte wichtig. „Barmherzig“ ist im Grimm’schen Wörterbuch beschrieben als „Mitleid, Erbarmen im Herzen tragend und fühlend.“ Auch das Wort im griechischen Urtext, „oiktírmon“, ist mit „barmherzig“ zu übersetzen. Der Wortbestandteil „herzig“ meint „von Herzen kommend“, also nicht „aus Berechnung von Vor- oder Nachteil“, sondern aus dem Gefühl heraus, das man am besten mit „Liebe“ bezeichnen kann.

Das „barmen“ ist mit „herzig“ eng verbunden. „Barmherzig sein“: Aus meinem Gefühl heraus, aus meinem Inneren heraus den anderen Menschen wahrnehmen, mich ihm zuwenden, vor allem, wenn er Leid oder Not hat, und Leid und Not lindern oder ihm abhelfen wollen, also sich seiner erbarmen.

Jesu entscheidende Botschaft über Gott ist: „Euer Vater ist barmherzig!“ Ihn predigt er als den Fürsorglichen, als den, der sich kümmert, als den Hilfreichen, den Verzeihenden, als den, der sich erbarmt (siehe oben!), als den, dem seine Menschen zu Herzen gehen und die er von Herzen liebt.

Manche Menschen haben aus leidvoller Erfahrung ein anderes Vaterbild; meine Erfahrung ist: Ja, ER ist barmherzig! Er erbarmt sich allerdings oftmals anders, als wir das zunächst gerne hätten. Unsere Barmherzigkeitswünsche unterscheiden sich öfter von dem, was ER als für uns wichtig und richtig weiß.

 

Jesus will, dass wir barmherzig sind, so wie Gott barmherzig ist. Das sollen wir anstreben: Barmherzig sein wie Gott.

 

Ein hoher Anspruch – ihn zu erfüllen kann ein Mensch sich nur annähernd bemühen, und er wird wiederum der Barmherzigkeit Gottes bedürfen, der nicht nach Gelingen oder Misslingen urteilen wird, sondern danach, ob jemand überhaupt versucht hat, „barmherzig“ zu sein.

Barmherzigkeit ist nicht nur ein moralischer oder humanistischer Akt. „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus denen, die barmherzig sind. (Matthäus 25,40) Wir begegnen ihm, Jesus, selbst, und wir haben gerade am Christfest erfahren, dass wir ja im Kind Gott begegnen.

Für dieses neue Jahr 2021 gilt Jesu Aufforderung nicht anders als in den vergangenen Jahren, aber sicher wissen oder ahnen wir zumindest, dass sie notwendig als Jahreslosung, als Leitwort über diesem kommenden Jahr steht.

Denn das „barmherzig sein“ hat ganz alltagspraktische Folgen:

Bundesgesundheitsminister Spahn hat im Frühjahr 2020 gesagt: „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen.“ Ich ergänze von mir aus: „Wir werden zueinander oft barmherzig sein müssen.“
Sie erinnern sich, dass es für das Verhalten in der Pandemie Einschätzungen gegeben hat, die hoffentlich eher barmherzig gemeint waren und nicht selbstsüchtig („Nur nicht zu viele Einschränkungen und keine Grundrechtseinschränkungen!“), sich aber als Fehleinschätzungen gezeigt haben. Fehler verzeihen ist barmherzig; wenn aus Fehlern für die Zukunft gelernt wird, kann daraus Verbesserung der aktuellen Lage entstehen.
 

Die Pandemie-Situation am Anfang dieses neuen Jahres beeinflusst vieles:

  • Menschen kommen in Bedrängnis, weil sie womöglich über das gesundheitliche Wohl von Menschen entscheiden müssen.
  • Menschen kommen in wirtschaftliche Bedrängnis, weil die Lockdowns ihre wirtschaftliche Existenz in Frage stellen.
  • Menschen vereinsamen, weil Kontakte reduziert werden und müssen: Je weniger direkter Kontakt, desto weniger häufig wird das Virus übertragen.
  • Menschen werden aus gewohnten Abläufen herausgerissen: Kinder aus Kita und Schule, Eltern haben zu wenig Möglichkeiten, ihre Kinder angemessen zu betreuen.
  • Menschen geraten in Panik, weil sie Angst vor den Folgen einer Ansteckung haben und von schlimmen Krankheitsverläufen hören.
  • Menschen machen immer öfter einen großen Bogen umeinander, wenn sie einander begegnen.
  • Menschen sind unsicher, ob sie sich darauf verlassen können, dass der Mensch ihnen gegenüber sorgsam und rücksichtsvoll ist.

 

Jedes Mal ist unsere Barmherzigkeit gefragt – und oft genug auch das Verzeihen.

 

Wie das praktisch aussehen kann?

  • Zuhören, wo nötig. Reden können kann den Druck abbauen, den die Sorge oder Angst erzeugt.
  • Verhaltensausrutscher verzeihen.
  • Geduldig(er) sein. Nicht jeder kann in einer zugespitzten Situation sofort mit Ruhe reagieren.
  • Hilfen anbieten.
  • Zupacken, helfen, wo möglich.
  • Hilfe suchen! (Das ist Barmherzigkeit gegen einen selbst!)
  • Sich solidarisch verhalten.
  • Sich kümmern – Telefonate können Wunder bewirken, wenn man Menschen erreicht, die einsam sind.
  • Regeln einhalten, um sich und andere nicht zu gefährden. („Ich trage die Maske, um dich oder Sie zu schützen, falls ich Überträger bin und noch gar nichts davon weiß. Dass ich mich schütze, kommt meiner Meinung nach erst an zweiter Stelle.“)
  • Ansprüche – auch berechtigte – einstweilen einmal zurückstellen. (Manche Ansprüche erweisen sich nach einiger Zeit als gar nicht so wichtig, wie man meinte. Man kann vor dem Laden auch mal warten, bis drinnen Platz genug ist. Man kann auch mal auf den Skiausflug verzichten, wenn abzusehen ist, dass man sich dort nur gegenseitig auf die Füße tritt. …)

 

So viele und noch viele andere Möglichkeiten, die ich Ihrer Phantasie überlasse, eröffnet dieser Satz: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“

Man kann miteinander diese Bedrohung überstehen und sogar neues Miteinander entwickeln.

Auch wenn sich die Lage im Laufe des Jahres verbessern sollte, werden wir die Erfahrung mitnehmen, dass das „Seid barmherzig…!“ lebenswichtig, ja überlebenswichtig ist.

Überhaupt sind diese Aufforderungen Jesu z.B. in Lukas 6 insgesamt sehr lebenspraktisch und höchst alltagsnützlich. Es lohnt sich, sie einmal nachzulesen.

 

Ich habe in den vergangenen Jahren immer mit diesem Eingangsgebet den Gottesdienst zu Neujahr begonnen:

Wie heimlicher Weise
Ein Engelein leise
Mit rosigen Füßen
Die Erde betritt,
So nahte der Morgen.

Jauchzt ihm, ihr Frommen,
Ein heilig Willkommen,
Ein heilig Willkommen!
Herz, jauchze du mit!

In Ihm sei's begonnen,
Der Monde und Sonnen
An blauen Gezelten
Des Himmels bewegt.

Du, Vater, du rate!
Lenke du und wende!
Herr, dir in die Hände
Sei Anfang und Ende,
Sei alles gelegt!

(Eduard Mörike)

 

Herr, dir in die Hände sei voll Vertrauen alles gelegt. Du wirst’s wohl machen! Wir wollen auf dein Erbarmen vertrauen.

Amen.

Ich wünsche Ihnen ein Jahr voll Segen. Seien Sie behütet!
 

Heinz Frankenberger

Prädikant im Bezirk Mühlacker