Predigttext und Predigt für den Sonntag Lätare, 22.03.2020

Jesaja 66, 10-14

10 Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid.

11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.

12 Denn so spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.

13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.

14 Ihr werdet's sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des Herrn an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden.

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Predigttext stammt aus dem Ende des Jesaja-Buches im Ersten Testament. Da spricht der Prophet im Auftrag Gott zu denen, die ungefähr 50 Jahre nach der Verschleppung ihrer Vorfahren aus der sogenannten „Babylonischen Gefangenschaft“ nach Jerusalem zurückkehren. Die Machtverhältnisse haben sich geändert, Die neuen Herrscher erlauben diesen Nachfahren, dass sie wieder in das Land ihrer Väter zurückkehren dürfen. Das kennen sie nur aus Erzählungen – als blühendes Land, als blühende Stadt Jerusalem, als die Orte, an die das auserwählte Volk Gottes doch gehört. Sie kommen zurück und finden eine zerstörte Stadt und einen zerstörten Tempel, praktisch platt gemacht.

Und trotzdem ruft der Prophet: „Freuet euch!“ „Lätare“ ist der lateinische Ausdruck dafür. „Freuet euch! Denn die Stadt Jerusalem ist da! Sie existiert wieder – und ihr seid da, ihr Zurückgekommenen!“

Jerusalem – die Stadt – steht im Ersten Testament stellvertretend und als Symbol für Israel als Heimat des Gottesvolkes. Jerusalem – die Stadt Gottes - in den Zukunftsvisionen der Bibel ist später das neu vom Himmel herab kommende Jerusalem die neue Stadt Gottes, das Bild für die neue Welt Gottes.

In starken Bildern redet der Prophet: Das Gottesvolk darf wie ein kleines Kind satt werden, hat also Möglichkeiten sich wieder zu entwickeln, wieder stark zu werden, und es wird von Gott getragen und liebkost – gehätschelt wie ein Kind … Und Gott will Friede ausgießen wie einen Strom und den Reichtum der Völker ausbreiten wie einen überströmenden Bach.

Später in diesem Kapitel und anderswo kann man noch hören, wie die neue Stadt Gottes das Ziel für alle Völker sein wird.

Die Stadt und der Tempel wurden wieder aufgebaut, im Jahre 70 n.Chr. von den Römern zerstört. Die Stadt war im Mittelalter heiß umkämpft zwischen Muslimen und Christen. Sie steht heute im Spannungsfeld zwischen drei Religionen: der jüdischen Religion, dem Islam und dem Christentum.

Ich meine, für uns ist heute vor allem diese Verheißung Gottes wichtig: Freuet euch … Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.

Gott selbst spricht – nicht irgendjemand. Wenn Gott sagt: Ich will – dann tut er es auch Und er tut es mütterlich.

Dahinter steht eine Vorstellung von Mutter – der „Momme“, wie es auf Jiddisch heißt: Trösten ohne Distanz, ohne Bedingung, schützend, bergend, ursprünglich – ohne „Mutter-Romantik“ vom „Mütterlein“.

 

11 Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.

12 b Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen.

13 Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; …

 

Das sind eine starke Verheißung und ein Trostwort für Menschen, die aus großer Not kommen und vielleicht sogar noch in großer Not sind.

Zumal, wenn – wie in diesen Tagen – unser Land durch eine Virus-Pandemie in Fesseln gelegt wird, wenn alle Menschen Beschränkungen unterworfen werden und sich aus Einsicht selbst Beschränkungen wie zum Beispiel die „häusliche Quarantäne“ auferlegen. Wie viele Menschen heimlich oder noch fast unterbewusst Angst vor Ansteckung oder Angst vor den wirtschaftlichen und letztlich existenziellen Folgen haben und womöglich sogar traumatisiert werden, ist gar nicht abzusehen.

 

Trösten – Trost --- Was bedeuten die Wörter überhaupt?

Im Grimm’schen Wörterbuch finde ich zu „Trost“ als sprachliche Wurzel:
„Altnordisch: traust ='Sicherheit, Zuversicht, Mut, Hilfe, Schutz, Vertrauen, sicherer Grund‘".

Die hebräische Wort-Wurzel nhm kann z. B. bedeuten, einem andern das Aufatmen und so die Rückkehr ins Leben zu ermöglichen.

 

Von Gott ist nicht gut theoretisieren oder dozieren. Ich will erzählen:

Ich stelle mir vor: Zwei junge Leute – Rückkehrer nach Jerusalem, zwei Nachkommen derer, die 50 Jahre vorher nach Babylon verschleppt worden waren – die vor den Trümmern der Häuser unterhalb des ebenfalls zerstörten Tempels stehen. Wie soll man es jemals schaffen, wieder ein Heim zu haben? Da ist noch ein anderes Paar. Von denen kommt der Vorschlag: Wir bauen – erst das eine, dann das andere Haus. Arbeiten wir zusammen, dann sind wir mindestens vier Erwachsene! Wenn doch TROST auch Mut bedeutet, dann kann die Zukunft in Jerusalem beginnen.

 

Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.

Ich stelle mir vor: Der kleine Robert kommt von der Grundschule nach Hause, Jacke zerfetzt, Ranzen halb aufgerissen, Hefte und Bücher dreckig, Schrammen im Gesicht – voll unendlich tiefen Unglücks und verletzter Drittklässler-Würde.

Die große Schwester ist zu Hause, öffnet die Haustür, sieht ihn, unterdrückt die flotten Bemerkungen, die sie normalerweise für ihr Brüderchen draufhat, nimmt ihm den Ranzen ab, nimmt ihn einfach in den Arm, putzt ihm die Nase, setzt sich mit ihm im Flur auf den Boden und wiegt ihn, bis er sich ausgeheult und wieder beruhigt hat und stockend und immer wieder die Nase aufziehend berichten kann: Dass ihm die Viertklässler aufgelauert haben, ihn verspottet haben wegen seines Namens – und er hat sich gewehrt und zurückgespottet. Und dann haben sie ihn in die Zange genommen und niemand hat ihm geholfen. Und dann hilft sie – die große Schwester – ihm, das Gesicht zu waschen und eine saubere Hose und ein frisches T-Shirt zu suchen und die Hefte und die Bücher zu säubern. Nach einer Stunde wird er für sie wieder der kleine freche Bruder sein … Aber jetzt hat sie getan, was zu tun war …

 

Ich will euch trösten, wie einen eine Mutter tröstet.

Er tritt ins Arbeitszimmer des Kollegen und sieht den anderen, mit dem er eher lose befreundet ist, an seinem Schreibtisch sitzen – aschfahl im Gesicht, die Augen sagen: Ich bin am Ende. Er habe das Gefühl, dass er sich zu viel vorgenommen hat, dass er das nicht schafft, das Pensum heute schon gar nicht! Keine Chance auf eine Pause, keine echte Möglichkeit zur Flucht. Seit Tagen schläft er schlecht bis gar nicht. „Sie hat mich wieder gepackt – die Depression.“

„Wir reden!“ Im Gespräch öffnet sich der ganze Sack mit den Ansprüchen an sich selbst, den Selbstzweifeln, der Verzagtheit. „Du weißt aber doch, Du kommst da wieder raus. Das wird wieder anders. Du bist immer wieder rausgekommen – du weißt, dass das seine Zeit dauert!“ Und wir werden uns am Samstag hier treffen und miteinander sortieren und bearbeiten, was gemacht werden muss, und einen Plan machen, wie du dir die Arbeit erleichtern kannst.

 

Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.

Sie hält den Brief in der Hand, ist fassungslos. Er beendet die Verlobung. Er will sich anders orientieren. Er sieht keine Zukunft für sich und sie. Mit einem Male sind alle Träume und Hoffnungen auf ein gemeinsames Leben zerstört. Sie ist allein, sitzen gelassen. Wie soll sie eine Zukunft haben ohne den, den sie bis eben noch geliebt hat?

Gegen Abend trifft sie beim Einkaufen – es muss ja irgendwie weitergehen – die Freundin aus der Ausbildungszeit. Die sieht ihr verheultes Gesicht, fragt gar nicht weiter, nimmt sie einfach in den Arm. Die Freundin hilft ihr beim Bezahlen an der Kasse und beim Einladen ins Auto. Und dann fahren sie raus zu einem Waldparkplatz, machen einen langen Spaziergang. Da erst kann sie erzählen, was passiert ist. Und die andere hört einfach zu, redet erst, als sie nach ihrer Meinung gefragt wird. Beim Abschied spät am Abend fühlt sie wieder Boden unter den Füßen. Ihr Leben wird weitergehen…

 

Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.

Seit mehreren Wochen hat sich in unserem Land eine Situation entwickelt und zugespitzt, von einer Art, wie sie die Nachkriegsgenerationen und die noch Jüngeren von uns noch nie erlebt haben: Das öffentliche und auch das private Leben wird immer mehr reduziert. Nicht einmal Gottesdienst können wir in den nächsten Wochen miteinander feiern. Viele von uns sind auf sich allein gestellt. Nicht jeder hat gute Nachbarn, denen man sich vertrauensvoll zuwenden kann, für manchen ist die Familie weit weg. Nicht alles lässt sich übers Telefon regeln. Für manchen sind die neuesten Nachrichten verwirrend.

Und dann höre ich, dass in den Städten, aber auch auf dem Lande, ältere und vor allem auch jüngere Menschen Zettel aushängen und an Haustüren anbringen, in denen sie ihre Hilfe anbieten zum Einkaufen, für Botengänge, als Begleitung zur Arztpraxis.

 

Und wo ist jetzt eigentlich der tröstende Gott?

Sie haben bestimmt gemerkt, alle meine Geschichten handeln von Begegnungen. Der Wortstamm im Hebräischen, den die Übersetzer mit „trösten“ übersetzen, bedeutet, enthält vor allem diesen Sinn: einander begegnen, einander begleiten, Beistand geben.

Und damit „Sicherheit, Zuversicht, Mut, Hilfe, Schutz, Vertrauen, sicheren Grund‘“ geben.

Das Wahrnehmen, das Zuhören, die bergende Umarmung (soweit das derzeit aus Gründen des Gesundbleibens sinnvoll ist), das Gespräch, das Ausharren und Dableiben, damit der/die andere nicht mehr allein ist – das ist in „trösten“ enthalten.

 

Gott tröstet, indem er seine Boten schickt.

Wenn Sie einen Trost empfangen, dann ist da eigentlich immer ein Mensch, dem Sie begegnen. Ob der sich von Gott geschickt fühlt, ob er/sie einem Impuls folgt, ob er/sie Engel-Aufgaben übernimmt, ob Sie ihn/sie als von Gott geschickt empfinden oder erkennen – ich bin gewiss, dass wir Gottes Boten sind, wenn wir trösten.

Wenn Sie aufmerksam auf den richtigen Moment sind, wagen Sie’s. Begeben Sie sich auf den Platz des Trösters, auf den Platz dessen, der sich erbarmt, Zeit nimmt, bergend umarmt, beisteht, Kraft gibt – gehorchen Sie dem Impuls!

Oder gestehen Sie sich ein, dass Sie’s jetzt nicht können.

Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet:

Du mit der Aussicht auf eine offene helle Landschaft: Du kannst auch Tröster sein – und Du darfst davon Mut gewinnen, dass Du, wenn nötig, auch Trost finden wirst.

Die Zusage Gottes gilt auch da, wo der Tunnel droht. Weder Trauer noch Verlust noch Angst lassen sich einfach wegblasen. Sie müssen durchlebt werden, damit Neues möglich wird. ER hat schließlich ja auch sich selbst ins Menschenleben hineinbegeben. ER ist der Gott, der weiß, wie Menschenleben sein kann.

Amen

 

Heinz Frankenberger

Prädikant im Dekanat Mühlacker

heinz.frankenberger(at)gmx.de

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