Lesepredigt von Herrn Pfr. Edgar Tuschy

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

vergangenen Mittwoch haben wir uns mit den Konfirmandinnen und Kon-firmanden über die Lebensweise der Menschen im vorderen Orient unter-halten. Die Lebensweise im Land der Bibel brachte eine ganz andere Ge-sellschaft vor unsere Augen. Wenn man die Bibel liest, muss man sich nämlich in eine neue Lage „versetzen“. Man muss in Gedanken hineinschlüpfen in eine etwas fremde Situation der Leute von damals im vorderen Orient, um zu ver-stehen, wie das Leben damals abgelaufen ist.

Ein Teil unserer Überlegungen mit den Konfirmanden war die Tatsache, dass jene Leute damals in einer Sippe lebten, in einem Familienverbund mit man-chmal 3-4 Generationen unter einem Dach. Sie mussten alle zusammen-halten, sonst würde es ihnen nicht gut gehen. Jede Sippe hatte ihr Oberhaupt, den sogenannten Patriarchen, wenn man will, den Chef des Ganzen. Und alle anderen Personen in dieser Sippe, die besassen ihren je eigenen Rang und ihre  spezielle Aufgabe.

Waren diese Leute in der Sippe alle gesund und hatten Arbeit ging es ihnen für gewöhnlich durchaus gut. War das „System“ aber nicht im Gleichgewicht, wenn also z.B. jemand vor der Zeit starb, dann konnte es ungemütlich werden. Wie gesagt, jede und jeder hatte seine oder ihre Aufgaben zu erfüllen, doch eine Krankenversicherung oder Rente gab es damals nicht.

Im heutigen Predigttext ist dieses soziale Gefüge auseinandergefallen und zwar ziemlich massiv. Wir werden hineingenommen in das Leben einer Frau, die ihre eigene Sippe verlassen hatte. Bereits mit ihrer Heirat verlässt Naomi ihr Elternhaus, ihren Verbund, der ihr Sicherheit gegeben hatte. Und nun, in der Gemeinschaft der Familie ihres Mannes, erlebt sie eine grosse Hungers-not, so dass die beiden ihr Land verlassen und von Bethlehem ins Ausland ziehen, in der Hoffnung dort überleben zu können.

Zuerst geht ihre Rechnung auf, es geht ihnen im Ausland gut, doch dann stirbt Naomis Mann. Gott schenkte den beiden 2 Söhne, die zwischenzeitlich bereits geheiratet hatten. Naomis Schicksalsschlag weitet sich aus, denn auch ihre beiden Söhne sterben. Nun steht sie da, ohne soziale Absicherung, ohne einen Mann, der damals für das Überleben der Frauen die Garantie über-nahm. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Ausland zu verlassen, um wieder in ihre bekannte Heimat, zu ihrer Familie, ihrer Sippe zurückzukehren, sollte es dort noch Reste geben. Sie kehrt der mittlerweile ihr vertrauten Um-gebung und auch ihren Schwiertöchtern den Rücken zu und will aufbrechen. Da meldet sich nun Ruth, eine ihrer Schwiegertochter zu Wort und sagt zu Naomi:

„Bedränge mich nicht, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, nur der Tod wird mich und dich scheiden. (Ruth 1, 16-17)

Welch ein Bekenntnis, welch eine Liebe und Verbundenheit. Da ist sich eine junge Frau aber mehr als sicher, welchen Weg sie einschlagen möchte. Eine Entscheidung, wie die der anderen Schwiegertochter - im Land zu bleiben - kommt für Ruth nicht in Frage. Ruth bindet sich an ihre Schwiegermutter, sie bilden zusammen eine Notgemeinschaft. Ruth wagt einen Aufbruch in die Fremde, sie wagt ein neues Leben.

Künftig wird sie nun eine Fremde sein im neuen Land mit der anderen Religion.

Liebe Leserin, lieber Leser, Ruth bricht auf in ein neues Zeitalter. Sie lässt alles hinter sich und wird sich fallen lassen müssen in ungewisse Hände.

Der Glaube ihrer Schwiegermutter hatte ihren Mut gestärkt, sonst würde sie das nicht sagen können: „Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ Sie lässt alles hinter sich und vertraut, dass es gut werden wird.

Wenn man in Gedanken hineinschlüpft ist dies eine ganz andere Situation als damals in Nahen Osten, da muss man umdenken. Es waren ganz andere Sitten als heute und doch: Manche Dinge bleiben immer gleich. Sei es vor 3000 Jahren oder heute und auch noch in 100 Jahren: Etwas Bekanntes, Vertrautes, seine Heimat  hinter sich zu lassen und einzutauchen in ein neues Zeitalter, hatte damals ein mulmiges Gefühl hinterlassen und hinterlässt es heute auch und ebenfalls so in der Zukunft. Es bleibt die Unsicherheit, was wohl künftig auf sie zukommen wird. Alles, was bisher getragen hatte, alles, was ihnen bisher Halt geboten hatte, war ihnen genommen.

In dieser Situation macht Ruth den Gott ihrer Schwiegermutter zu ihrem Gott.

Welch ein gewagter Schritt, sich in allem Gott voll und ganz anzuvertrauen. Sie muss wohl etwas gespürt haben vom Glauben ihrer Schwiegermutter, von dem Vertrauen, das sie besitzt. Denn, eine sichtbare, handfeste  Grundlage, etwas Materielles, Gold und Silber oder ein Grundstück war ihr  nicht mehr vergönnt, ihr eigen zu nennen. Darauf konnte sie kein Vertrauen aufbauen.

Naomi hat Ruth von ihrer Entscheidung überzeugt. Ja, sie will diesen Weg auch gehen. Ja, sie will vertrauen, dass da einer ihren Weg in die Zukunft begleitet, der es gut mit ihnen meint. Ruth geht mit hinein in eine Zukunft die ungewiss ist, doch getragen in der Hoffnung, dass sie beide ihre Hoffnung auf den selben Gott setzen.
Es ist ein Schritt, seine Hände für die kommende Zukunft zu öffnen, damit Gott diese füllen kann. Es ist eine schwere Entscheidung loszulassen, doch Gottes Segen begleitet sie!

Amen

 

Pfarrer Edgar Tuschy