Lese-Predigt zum Altjahrsabend, 31. Dezember 2020
von Herrn Heinz Frankenberger
Liebe Leserin, lieber Leser!
Der für heute Abend vorgeschlagene Predigttext mag im ersten Moment befremdlich erscheinen. Aber es lohnt sich, ihm nachzuspüren:
2. Mose 13, 20-22
20 So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.
21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.
22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.
So war das: Sie waren gerade erst dem Regiment des Pharao entronnen. Jahrhundertelang hat man Ägypten in der Bibellese-Tradition und in der Predigttradition „das Sklavenhaus“. genannt.
Sie zogen „wohlgeordnet aus Ägyptenland.“ Und zogen aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste.
Die Wüste – das Ungewisse – lag vor ihnen, und sie hofften, davongekommen zu sein/ die Knechtschaft hinter sich zu haben.
Die Wüste, das unabsehbare und unbekannte Gebiet mit Felsen, Hitze und Sand, ohne Wasser, ohne bekannte Wege. Was würde hinter der Wüste sein? Wohin sollte es denn nun gehen? Was würde die Zukunft bringen?
Immerhin:
21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten.
22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.
Vielleicht können Sie sich Bilder vorstellen:
Was vor ihnen liegt: die Wüste, Felsen, strauchlose Ebene, das Unbekannte, das Ungewisse, die Zukunft;
aber auch das Zurückliegende: die Sicherheiten in Ägypten, das, was sie gehabt hatten, das, was man „die Fleischtöpfe Ägyptens“ nennt, denn sie waren zwar nicht frei gewesen, aber versorgt.
Sie hatten sich auf den Weg gemacht, geführt – oder verführt? – von diesem Moses, der im Auftrag Gottes redete. Aufgemacht? Ja, wohin?
Sie sahen nur die Wolkensäule, die Feuersäule, ihrem Weg vorausziehend, sie hinter sich herziehend.
Sie ahnten noch nicht, welches lebensbedrohende Abenteuer als nächstes auf sie zukommen würde – wir wissen es: das Schilfmeer, die Verfolgung durch die Kampftruppen des Pharao, der sich’s wieder anders überlegt hatte. Und sie ahnten auch nicht, durch welches Wunder sie gerettet werden würden: Mose teilt die Fluten des Meeres, sie ziehen trockenen Fußes hindurch. Das hinter ihnen zusammenschlagende Wasser rettet sie vor ihren Verfolgern. Der Gott, der sie aus Ägypten weggelockt hatte, rettete sie – und nicht nur an diesem Tag.
Der 31. Dezember ist ja nur ein Datum – aber er hat für die meisten Menschen doch eine besondere Bedeutung: Man empfindet ihn immer wieder als Ende dessen, was zurückliegt, und als Schwelle vor dem, was vor einem liegt.
Ich möchte gerne den Vergleich ziehen zwischen der Situation damals und unserer Situation heute – hier an diesem Abend.
Wir lagern nicht wie die Israeliten am Rande der Wüste, aber wir stehen ähnlich wie sie an einer Grenzlinie, am Rande von Unbekanntem, von Ungewissem, an Rande der Zukunft.
Was hinter uns liegt: Sicherlich nicht Knechtschaft, auch nicht das, was man die „Fleischtöpfe Ägyptens“ nennt.
Aber den meisten von uns ist es doch nicht wirklich schlecht gegangen.
Wie war das denn im vergangenen Jahr? Sie wissen das selbst am besten.
Mancher von uns hat Verluste gehabt
- wirtschaftliche: Vielleicht ist die materielle Sicherheit angeknackt oder zerbrochen.
- kulturelle: keine Live-Konzerte, kein Theater, keine Oper, kein Rockfestival
- menschliche: Einsamkeit, Verlust von Freunden, von Familienmitgliedern, womöglich tatsächlich durch die Seuche; keine Erholung, keine Ferien, keine Urlaubsreise, kein großes Weihnachtsfest, keine richtige Silvesterfeiern.
Und trotzdem: Vieles war anders als sonst, aber wir haben auch immer wieder erleben dürfen, dass wir behütet geblieben sind, manchmal womöglich Erlebnisse gehabt haben, als ob ein Engel gewirkt habe.
Man kann einwenden: Von einer Rauchsäule oder von einer Feuersäule ist bei uns hier nichts zu sehen gewesen. Aber es blieb doch dies: Der HERR zog voran und wies den Weg, wenn man sehen wollte.
Der HERR ist in jedem Fall da gewesen. Und dafür dürfen wir dankbar sein.
Wir lagern also am Rande des kommenden Jahres.
Wen lassen wir vor uns herziehen?
Die Pandemie-Lage ist unsicher, die Gefahr selbst infiziert zu werden, ist nicht abzutun. Angst kann vor uns herziehen und uns in tiefe Schluchten stürzen.
Politisch kommt auf uns ein Wahljahr zu, in dem womöglich grundsätzliche Entscheidungen darüber getroffen werden, ob wir frei, offen und tolerant – vor allem dies! – weiterleben können, oder ob womöglich Kräfte die Oberhand gewinnen, die zwar Freiheiten propagieren, aber das Gegenteil davon meinen.
Gleichgültigkeit und Desinteresseund Lüge können vor uns herziehen und uns in eine Wüste führen.
Die Pandemie wird auch die politische Situation beeinflussen.
Panik, Neid, Egoismus können uns vor sich hertreiben, wenn wir uns nicht auf unsere Kräfte besinnen.
Aber wenn wir Wolkensäule und Feuersäule als Zeichen wahrnehmen, als Symbole, dann haben wir Gotteszeichen!
Und die muss man erst mal haben! Die hat nicht jeder!
Wenn’s da heißt:
22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht,
dann möchte ich das gerne so übertragen: Niemals ist die Zusage Gottes, dass er sich unser erbarmen will, von ihm gebrochen worden.
Mord und Zerstörung kam immer durch Menschen.
Wir dürfen hören:
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.
Ich bin bei euch alle Tage – bis an der Welt Ende.
Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.
Wir treffen immer wieder auf Menschen, die uns Trost und Geborgenheit vermitteln wollen und können, wenn wir das nur zulassen.
Allerdings:
Seine Zuwendung funktioniert nicht auf Knopfdruck wie eine von uns gebaute Maschine, die dann tut, was wir gerade wollen. Ich bin gewiss, dass das gut ist, was er für uns bereitet.
Wen lassen wir im nächsten Jahr vor uns herziehen?
Ich möchte Ihnen – und mir auch – Mut machen für Zweifaches:
Das alte Jahr als geschehen hinter sich zu lassen, mitzunehmen, was es aus seinem Lauf zu lernen gibt, sich und anderen zu verzeihen, was versäumt wurde, weil man es nicht wusste oder nicht wissen konnte.
Und das neue Jahr getrost zu beginnen.
ER zieht immer noch vor uns her:
ER macht Menschen stark, die mit Verantwortung Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen treffen.
ER gibt uns nach wie vor die Möglichkeit, selbst verantwortlich zu entscheiden, wie wir uns – nicht nur in der Pandemie-Situation – verhalten wollen.
ER sagt uns – und damit beginnt tatsächlich dann unser neues Jahr- mit der Jahreslosung für 2021:
Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.
Wie es aussieht, wird das Barmherzig Sein und Barmherzigkeit Erleben etwas ganz Wichtiges im neuen Jahr werden.
Amen.
Heinz Frankenberger
Prädikant im Kirchenbezirk Mühlacker
Lesepredigt von Herrn Pfr. Edgar Tuschy
Predigt zur Jahreslosung
Lukas 6, 36:
„Jesus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“
Liebe Leserin, lieber Leser,
lassen Sie sich zu Weihnachten gerne etwas schenken, ohne dass Sie Ihrerseits etwas „zurück“ schenken? Ein Geschenk einfach so zu empfangen ist für Erwachsene offensichtlich für gewöhnlich eher schwierig, Kinder haben damit wohl weniger ein Problem.
Mit Gnade und Barmherzigkeit scheint es ähnlich zu sein. Wer lässt sich von Gott gern etwas schenken?
In dem Zusammenhang beschäftigt mich ein ganz besonderer Mann, der Barmherzigkeit in unglaublichem Ausmaß erfahren hatte. Jesus bindet diesen Mann in ein Gleichnis. Er erzählt:
Ein Mann gerät bei einem König in Abhängigkeit weil sich bei ihm eine unglaubliche Höhe an Schulden angehäuft hatte, eine Schuld, die er nie und nimmer zurückzahlen könnte. So befiehlt der König - wie es damals üblich war – diesen Mann samt der Familie zu verkaufen, um durch den Verkauf Geld einzutreiben. Der Mann fällt dem König zu Füßen und fleht um Aufschub.
Dann heißt es, der König hätte Erbarmen mit jenem und er erlässt ihm seine ganze Schuldenlast.
Dieser verlässt den König – glücklich wie man vermuten müsste - und findet freilich einen, der ihm seinerseits etwas schuldig ist. Doch er packt diesen und würgt ihn und sagt: „Bezahle, was du mir schuldig bist!“
Da fällt jener seinerseits nieder und bittet ihn: „Hab Geduld mit mir; ich will dir’s bezahlen“.
Der will aber nicht, sondern geht hin und lässt ihn ins Gefängnis werfen bis er bezahlt was er schuldig ist.
Liebe Leserin, lieber Leser, können wir solch ein Verhalten nachvollziehen? Eigentlich nicht, oder? Man erschrickt manchmal über den Eigensinn und das fehlende Einfühlungsvermögen seiner Artgenossen.
Als Jesus damals dies Gleichnis erzählt hatte, da fanden sich gewiss Anhaltspunkte für seine Beschreibung im realen Leben wieder. Solch ein unfassbares Verhalten war also nicht aus der Luft gegriffen und so ein Verhalten ist nicht erst seit heute in der – wie es immer so anschaulich heißt – Ellbogengesellschaft sichtbar und möglich. Gerade auch solche Menschen reagieren beim Thema Barmherzigkeit völlig unverständlich die Barmherzigkeit am eigenen Leib erfahren haben. Wie kann das sein?
Was ist der Grund, so zu reagieren?
Was ist der Grund dafür, unbarmherzig zu handeln, hat jener doch – gleichsam ein riesiges Geschenk bekommen?
Man fragt sich: Ist er aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage selber so zu handeln, dem anderen in seiner Not zu helfen?
Nun, vielleicht ist es wirklich ein ernsthaftes Problem, dass ich mir meiner eigenen Schwächen und Fehler gar nicht bewusst werde, dass ich mich über andere stelle, dass ich meine, besser als andere zu sein und den Splitter im Auge des anderen sehe, den Balken in meinem Auge aber nicht. Das heißt dann: Ich mache mir nicht klar, dass ich selber ja immer auch ein Bedürftiger bin. Ich verhalte mich so, als ob ich Hilfe von außen gar nie bräuchte. Möglicherweise rechne ich gar nicht damit, selber in ernsthafte Not zu geraten oder sie ist mir nicht wirklich bewusst. Kurzum, im Grund will ich nicht bei anderen in der Schuld stehen. Ich will keine Geschenke, ich verdiene mir meine Sachen selbst. Und im Grund braucht mir Gott auch nicht gnädig sein, denn ich hab mich in meinem Leben ja rechtschaffen angestrengt und kleinere Fehler unterlaufen ja jedem.
Was das Gleichnis Jesu erschreckend vor Augen führt ist, dass ein erlebtes Vorbild , ein Vorgang, bei dem man Barmherzigkeit und Fürsorge am eigenen Leib als etwas unglaublich Befreiendes hätte erleben können, nicht automatisch zur Nachahmung führt.
Eine Kultur der Gnade will Jesus freilich unter uns einführen. Wir brauchen Barmherzigkeit unter uns, wollen wir unsere Welt etwas angenehmer und warmherziger machen. Dazu möge die Jahreslosung helfen.
Die Jahreslosung möge uns dahin bringen, andere mit der Barmherzigkeit Gottes anzustecken. Das setzt dann voraus, andere wiederum so annehmen zu können wie Gott es auch tut, bedingungslos. Hand in Hand damit gilt es, die eigenen Schwächen anzuerkennen und sich klar zu werden, dass wir alle unser Leben nicht selber in der Hand halten und das Leben an sich schon Gnade ist, von Gott geschenkt.
Unsere Herausforderung besteht darin, dass wir eben in einer Zeit und in einem Umfeld leben in der und in dem man mit sich selber und anderen zuweilen hart ins Gericht geht. Man muss Leistung bringen, man muss gut sein, mindestens gut. Fehler und Schuld müssen geahndet werden. Nur Leistung zählt, nach der eigenen Leistung wird man bewertet. Wo käme man da auch hin, wenn man immer wieder einmal ein Auge zudrücken würde. Schlägt einer über die Stränge, fällt einer einmal dumm auf, macht eine einen Fehler, dann braucht es eine harte Hand, oder nicht?
Mit welchem Geist, mit welcher Gesinnung wollen wir ins neue Jahr gehen? Wollen wir der Aufforderung Jesu versuchen zu entsprechen, anderen gegenüber barmherzig zu sein? Wollen wir angehen gegen den Zeitgeist und Zeichen setzen?
Wenn ich recht sehe, dann hätte das zur Voraussetzung, dass ich zuerst einmal mir selber gegenüber barmherzig bin, dass ich meine eigenen Schwächen und Grenzen, meine Abhängigkeiten akzeptiere und annehme.
Wir werden ins neue Jahr nicht ohne Schuld kommen – keine und keiner schafft das. Zu komplex sind unsere Abhängigkeiten. Doch wir haben beim Blick in die Krippe etwas von dem Wesen Gottes erspüren können. Wir merken, wie Gott zu uns steht. Gott ist in die Welt gekommen um uns mit den Augen der Gnade anzusehen. Weil er weiß, dass wir in unseren Abhängigkeiten an vielen Stellen versagen, lässt er uns nicht im Stich.
Er verzeiht und vergibt, er versetzt sich in unsere Lage. Wenn Jesus Mensch wird, dann deshalb, um zu empfinden, wie es uns geht, wie es sich als Mensch anfühlt, Unmögliches möglich machen zu sollen, arbeiten wie eine Maschine, rund um die Uhr für die Familie da zu sein. Und als Konsequenz daraus nimmt Jesus unser Versagen und unsere Schuld, unsere Fehler, unsere Lieblosigkeit auf sich und vergibt uns.
Jesus sagt uns: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Streng genommen können wir das in diesem Umfang nicht, wir sind ja nicht Gott. Was wir aber können ist, einige der Strahlen seiner Barmherzigkeit, die bei uns ankommen an andere versuchen weiter zu „spiegeln“ gemäß der goldenen Regel: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. “
Amen